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Bundesminister a. D. Dr. Thomas de Maiziére

Koblenz, 18. November 2021

Gedenkansprache

bei der

Zentralen Gedenkfeier des Deutschen Heeres

am Ehrenmal des Deutschen Heeres nach dem Volkstrauertag


Sehr geehrter Herr General Mais,
sehr geehrter Herr General Kammerer,
sehr geehrte Soldatinnen und Soldaten,
verehrte Gäste,

Wir gedenken in diesen Tagen den Opfern von Gewalt und Krieg überall auf der Welt, gedenken Frauen, Männern und Kindern, die ihr Leben verloren haben oder deren Leben der Krieg und Terror überschattet hat. Dieses gemeinsame Gedenken ist eine wichtige, fast hundertjährige Tradition. Im Jahr 1919 schlug der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den Volkstrauertag als Ehrentag für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges vor, der 1922 zum ersten Mal begangen wurde, ehe der Tag in der Zeit des Nationalsozialismus zu propagandistischen Zwecken 1934 zum "Heldengedenktag" umfunktioniert wurde. Erst seit 1950 wurde der Volkstrauertag wiederbelebt und findet seit 1952 immer am Sonntag zwei Wochen vor dem ersten Advent statt – zum Gedenken der Opfer der Weltkriege sowie als Mahnung für die nachfolgenden Generationen.

In unserer Zeit gibt es zum Glück in unserem Land keine kollektive Kriegserfahrung, wir leben im vereinten Europa in Frieden und Wohlstand.

Ist es da noch nötig, als Kollektiv den Volkstrauertag zu begehen?

Im Moment kämpft unsere Gesellschaft mit einer anderen, alle betreffenden Gefahr. Das Coronavirus hält die Welt im Atem, auch unser heutiges Zusammenkommen ist geprägt von Vorsicht und Umsicht. Das Virus fordert unsere Solidarität, sie prüft uns als Menschen und als Gesellschaft, weil das Verhalten jedes Einzelnen zählt. Denn jeder trägt Verantwortung für die anderen. Die Bundeswehr hat auch in der Pandemie einen wichtigen Beitrag geleitet. Überlastete Gesundheitsämter entlastet, Verantwortung für die Gemeinschaft übernommen, für die Mitmenschen. In unserer (militärischen) Sprache nennen wir es: Kameradschaft. Kameradinnen und Kameraden passen aufeinander auf, stehen füreinander ein. In diesen Tagen müssen wir alle in unserer ganzen Gesellschaft gute Kameradinnen und Kameraden sein. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr übernehmen Verantwortung, im Ausland, zu Hause, militärisch und zivil.




Bild: © Drechsler


Solidarität mit unseren Bündnispartnern. Gefährliche Auslandseinsätze, Verteidigung inzwischen auch im Netz, Unterstützung bei Notlagen im Land wie bei den großen Fluten und in der Pandemie. Das ist die Bundeswehr von heute. Die Bundeswehr leistet Außerordentliches und wir sind stolz und dankbar dafür. Mancher hämische Kommentar schmerzt. Er kommt meistens von Leuten, die keine Ahnung haben. Hinter diesen Einsätzen und Leistungen stehen Menschen, die sich zur Verantwortung verpflichtet haben. Menschen, die bereit sind, notfalls alles einzusetzen, bis hin zum eigenen Leben. Das macht Ihren Beruf so besonders. In allen beruflichen und ethischen Aspekten. Das harte Ende des Soldatenberufs hat zu tun mit dem Tod, mit Töten und getötet werden. Für unsere Bundeswehr sind Einsatzbereitschaft und Hingabe, Mut und Tapferkeit keine hohlen Phrasen. Sie sind tägliche Praxis.
Das, was ich hier sage, wird oft gesagt. Es ist inzwischen auch nicht mehr so richtig umstritten. Aber es ist für viele Menschen, die auch von der Sicherheit leben, für die die Bundeswehr steht, nicht wirklich wichtig.

Das Paradoxe ist, im Alltag der meisten Deutschen ist die Bundeswehr wenig präsent, obwohl sie viel mehr Verantwortung übernimmt als früher. Neuerdings sieht man wieder mehr Menschen in der Bundeswehruniform an den Bahnhöfen und in den Zügen. Ich finde das gut. Die Truppe ist vielfältiger, bunter- diverser- geworden, sie ist professioneller geworden, international geachtet. Dennoch wird zu wenig in der Gesellschaft darüber gesprochen. Die Zeiten, in der leidenschaftliche friedens- und sicherheitspolitische Debatten die deutsche Innenpolitik prägten, sind vorbei. Im Deutschen Bundestag wird gestritten, ja. Aber das findet kaum gesellschaftlichen Widerhall. Ich weiß, wie schwer es für viele Soldatinnen und Soldaten ist, über ihre prägenden Erlebnisse zu sprechen. Viele fühlen sich nicht verstanden oder haben das Gefühl, dass keiner ihre Erlebnisse hören möchte. Das Leben ist zu Hause einfach weiter gegangen, oft hat sich wenig verändert, während man selbst im Einsatz viele neue Erfahrungen- gute wie schlechte gemacht hat, die einen auch verändern und formen. Das ist eine Herausforderung für jeden. Und es liegt auch die Gefahr der Entfremdung darin.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns als Gesellschaft gemeinsam gegenseitig zuhören, uns Raum geben und Verständnis zeigen für die Gefühle der anderen, für die Aufarbeitung des Erlebten, auch für die Trauer. Und das nicht nur am Volkstrauertag. Verdrängung schadet allen. Als Land sind wir gewachsen, haben gelernt, Verantwortung für unsere Vergangenheit zu übernehmen. Doch es war ein langer Weg. Die Deutschen, so beschrieben es Margarete und Alexander Mitscherlich in ihrem 1967 erschienen Klassiker, waren unfähig zu trauern. Das hat sich geändert. Aber die Erfahrung zweier Weltkriege, Schuld, Scham und Zukunftsverantwortung prägen das Verhältnis zwischen deutscher Gesellschaft und deutscher Armee bis in unsere Gegenwart.
Viele Familien haben die Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht, dass die als junge Männer ausgezogenen Soldaten oft als gebrochene Männer zurückkamen. Sprachlosigkeit, manchmal über Jahre und Jahrzehnte, entfremdete oft die Menschen. Auch viele von Ihnen werden sicherlich die Erfahrung gemacht haben, dass Ihre Großväter und Väter nicht
über das Erlebte sprechen wollten.

In vielen Familien gab es jedoch keine Heimkehrer, sondern nur im Krieg gefallene, vermisste und getötete Angehörige, Väter, Ehemänner, Söhne, Brüder, Mütter, Töchter, Nachbarn, Freunde, die fehlten.
Doch für die Trauer nahm man sich wenig Zeit. Die Intellektuelle Hannah Arendt, die die NS-Zeit im Exil überlebte, besuchte immer wieder in den Nachkriegsjahren Deutschland und äußerte sich bestürzt über „die Gleichgültigkeit“ der Deutschen „mit der sie sich durch ihre Trümmer bewegen“. Diese Verdrängung von Gefühlen, von Verlust, von Verletzungen, von Mitschuld schilderte bereits 1919 der Schriftsteller Stefan Zweig in seinem Aufsatz „Die Tragik der Vergeßlichkeit“ und beanstandet die Flucht der Verantwortlichen vor der Wahrheit: „Unsere Welt ist dunkel geworden, weil sie das Dunkel des Vergessens wollten, weil sie die Wahrheit, die sie einmal erkannt hatten, nicht länger ertragen wollten.“

Noch einmal zu den Psychologen Mitscherlich: „Wo psychische Abwehrmechanismen wie etwa Verleugnung und Verdrängung bei der Lösung von Konflikten, sei es im Individuum, sei es in einem Kollektiv, eine übergroße Rolle spielen“, so schreiben Sie, „ist regelmäßig zu beobachten, wie sich die Realitätswahrnehmung einschränkt und stereotype Vorurteile sich ausbreiten; in zirkulärer Verstärkung schützen dann die Vorurteile wiederum den ungestörten Ablauf des Verdrängungs- oder Verleugnungsvorgangs.“
Heute wird bei vielen nicht mehr die nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt, sondern eher die nüchterne und zum Teil harte Realität in unserer Welt. Uns damit auch die Erfordernisse einer nüchternen und zugleich wertgebundenen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der politischen Rolle von Streitkräften.
Bereits 1985 formulierte der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vor dem Deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag des Endes der deutschen NSDiktatur: „Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich nachträglich nicht ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Mir kommt es bei diesem Zitat auf den letzten Teil an. Ichwiederhole:

„Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Und da sehe heute wieder eine – wenn auch andere – Art der Verdrängung. Nicht bei der Wahrnehmung von Unmenschlichkeiten in der Welt, wohl aber im verdrängenden Umgang damit. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zitierte am Sonntag den israelischen Historiker Omer Bartov: Wir alle „sind Glieder einer zerbrechlichen und doch erstaunlich haltbaren Kette von Generationen, Schicksalen und Kämpfen, in der sich die historischen Ereignisse unablässig entfalten“.
Wir als gesamte Gesellschaft trauern und gedenken der Toten und Opfer. Sie alle sind ein Teil von uns, der fehlt. Bischof Christoph Demke hat es einmal so formuliert: "Der Tod schlägt Schluchten des Schweigens, wo sonst eine Antwort war und nun kein Echo mehr ist; er schafft schmerzliche Leere an Tisch und Bett, wo keine fürsorgliche, wärmende Hand mehr entgegenkommt."

Wir verstehen die Erinnerung als Verpflichtung zur Verantwortung. Es ist daher unser Auftrag und Ziel, dem Frieden zu dienen, wie es in der Präambel unseres Grundgesetzes heißt. Und das kann eben auch heißen, den Frieden zu sichern oder wiederherzustellen. Immer im Bündnis. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist diesem Ziel verpflichtet. Zu unserer Verantwortung aus Erinnerung gehört für mich auch der Multilateralismus, die internationale Zusammenarbeit, international offen, gesprächsbereit und verlässlich zu sein.
Es liegt in unserer Verantwortung, unsere demokratischen Werte und Errungenschaften zu verteidigen. Auch gegen die Feinde und Verächter unserer Demokratie im Inneren, auch gegen Extreme von links wie von rechts in den eigenen Reihen. Denn wer die Demokratie hasst, der kann ihr nicht dienen.

Nach vielen Jahrzehnten ohne Kampfeinsätze beklagen wir seit einigen Jahren wieder gefallene und verletzte Kameraden. Dies sind große und schmerzende Opfer. Die Nachrichten über im Einsatz getötete und verunglückte Soldatinnen und Soldaten, die Gespräche mit den Angehörigen und die Trauerfeiern waren für mich immer die wichtigsten und schwierigsten Momente im Amt.
Aber gleichzeitig auch die intensivsten, in der Trauer vereint mit den Angehörigen, Freunden und Kameraden. Die Gefallenen haben ihr Leben für unsere Sicherheit, unsere Demokratie und unsere Freiheit eingesetzt. Ihr Tod war und ist nicht sinnlos und nicht vergebens. Er mahnt uns, dass dies der schmerzhafteste und teuerste Preis dafür sein kann, dass wir Verantwortung übernehmen. Auch für unsere eigene Sicherheit in der Welt, in Verantwortung auch unseren Nachbarn und Verbündeten gegenüber. Deshalb war es so wichtig, unsere Soldatinnen und Soldaten kürzlich vor dem Reichstag zu ehren für Ihren Einsatz in Afghanistan. Unsere Verfassungsorgane saßen auf der Tribüne, und zwei Soldaten standen auf dem Ehrenplatz. Das war ein starkes Bild.

Und selbst daran gab es Kritik. Wieder war eine gewisse Fremdheit zu spüren und Unverständnis. Viele konnten eine Kritik an dem Afghanistaneinsatz und die Würdigung der Einsatzsoldaten nicht auseinanderhalten. Es ist unsere Pflicht dem entgegenzuwirken. Dieser Sprachlosigkeit vieler gegenüber unserer Bundeswehr und ihren Angehörigen. Viele scheinen zu denken, es sei besser, lieber nichts zu sagen, als das Falsche. Dabei braucht es manchmal doch gar nicht viel. Das kann eine kleine Geste sein, ein kurzer, herzlicher Gruß, eine Umarmung.

Es geht doch darum, füreinander da zu sein. Niemanden allein zu lassen. Mit seiner Trauer, mit seinen Gedanken und auch mit den psychischen Folgen von Dienst, Einsatz und Kampf. Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Gesellschaft gemeinsam in diesen Tagen innehalten, uns gemeinsam an das Leid erinnern, uns gegenseitig zuhören, uns Raum geben und Verständnis zeigen für die Gefühle der anderen, für die gemeinsame Trauer und Aufarbeitung des Erlebten.

Der Volkstrauertag ist kein Soldatentrauertag, sondern eben ein Volkstrauertag. Das ist genauso wichtig wie immer schon.

Oder, um es mit den Worten von der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zu sagen: „Erinnern ist Arbeiten an der Zukunft“.

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Erstellt von: system letzte Änderung: Dienstag, 21. Dezember 2021 [17:04:02] von btheus